Leseprobe Oaks Harbor: Schatten der Vergangenheit
Oaks-Harbor-Reihe Band 2
Kapitel 1
Liam
Eine zierliche Hand mit schlanken Fingern, die eindeutig nicht meine waren, schlossen sich um den Matcha Latte, den die Barista soeben vor mir auf die Theke gestellt hatte. Verwundert sah ich die kleine Elfe mit den ungebändigten roten Locken an. Ihre waldgrünen Augen schienen geradewegs in die tiefen meiner Seele hineinzublicken.
Mühsam schluckte ich.
»Das ist mein Matcha«, gab ich grummelnd von mir.
Ja, der durchtrainierte, kahlköpfige, eins achtundneunzig Meter große Marine bestellte morgens einen Tee mit Milchschaum, der in der Farbe an die Wandtapete eines Babyzimmers erinnerte. Verspottet mich doch.
Aber da mich sowohl der Geruch als auch der Geschmack von Kaffee zu sehr an meine aktive Zeit während des letzten Auslandsaufenthalts erinnerten, hatte ich mich nach meiner Rückkehr umorientieren müssen. Außerdem hoffte ich so den Schlafproblemen entgegenwirken zu können, wenn ich auf das Koffein verzichtete.
Bislang hatte sich der erwünschte Erfolg allerdings noch nicht eingestellt. Alles, was mir der Verzicht auf Kaffee bescherte, war schlechte Laune.
Und jetzt wollte mir diese Elfe auch noch meine morgendliche Energiequelle, an deren Geschmack nach Gras und Wiese ich mich partout nicht gewöhnen konnte, abtrünnig machen.
Ohne mich!
Ein überraschter Laut verließ den Mund der Elfe, als ich nun meinerseits nach dem To-go-Becher griff, um den sie noch immer ihre grazilen Finger geschlossen hatte. Ihre grünen Augen, die mich an einen heißen Sommertag in einem unberührten Stück Wald mitten in Michigan erinnerten, musterten mich langsam vom nicht vorhandenen Haaransatz bis zu den in schwarzen Boots steckenden Füßen.
Fuck, was dachte ich denn da? Ein heißer Sommertag im Wald?
Ich brauchte dringend Koffein. Also das, was in diesem vermaledeiten Tee steckte, auf den alle schworen, die sich gesunde Ernährung auf die Fahne geschrieben hatten.
»Du siehst zwar nicht wie ein Matcha-Latte-Trinker aus, aber du scheinst es nötiger zu haben als ich, also bitte schön.« Selbst ihre Stimme klang elfenhaft. Sanft, melodiös, wie eine Umarmung, die sich um meinen von Schlafentzug gebeutelten Körper schmiegte. Und eindeutig amüsiert. Mit einem weiteren Lachen entließ sie das Getränk aus ihren Fingern.
Sofort fühlte ich mich schlecht. Wenn meine Mutter mich jetzt sehen würde, hätte sie mir vermutlich die Ohren langgezogen. Das war nicht gerade die feine englische Art.
Tief seufzte ich. »Nein, ist schon in Ordnung. Wenn du auch einen bestellt hast, warte ich einfach auf den nächsten.« Noch immer klang in meiner Stimme dieses tiefe Brummen mit. Doch anstatt dass die kleine, auf den ersten Blick harmlos wirkende Elfe verschreckt und eingeschüchtert reagierte, strahlte sich mich nur an.
»Ich kann wirklich noch ein paar Minuten warten. Nimm ihn ruhig.« Aufmunternd sah sie mich an.
Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken, was für einen Eindruck ich auf sie machen musste. Nicht vor meinem ersten Kaffee.
Dankbar griff ich nach dem Becher und nahm einen tiefen Schluck. Sofort verbrannte ich mir die Zunge, was aber nicht davon ablenkte, dass ich dem Kaffee ja abgeschworen hatte.
Ich hoffte wirklich, ich würde mich mit der Zeit an dieses Gesöff gewöhnen.
Einen Blick zur Elfe riskierend wurde ich Zeuge davon, wie sie eine ihrer rötlichen, elegant geschwungenen Augenbrauen nach oben zog. Der belustigte Ausdruck stand ihr weiterhin ins Gesicht geschrieben.
»Kein Freund von Matcha?«, fragte sie amüsiert.
Unweigerlich musste ich mich schütteln. »Wir stehen noch etwas auf Kriegsfuß.«
Augenblicklich machte sich die mir nur allzu bekannte Enge in meiner Brust bemerkbar und ich fuhr mir abwesend mit einer Hand darüber, um sie zu vertreiben. Das war eindeutig eine schlechte Wortwahl für mein Unterbewusstsein gewesen.
Einerseits wollte ich nicht unhöflich sein, da die Elfe meinetwegen nun ein paar Minuten länger auf ihren Tee warten würde, andererseits wusste ich, dass ich hier dringend raus musste.
Die Welle in meinem Inneren ließ sich nicht mehr lange aufhalten und wenn das geschah, musste ich allein sein und brauchte keine Zeugen in meiner Nähe.
»Danke nochmal«, brachte ich mühsam krächzend hervor, dann nahm ich die Beine in die Hand und verließ schnellen Schrittes Oaks Harbors Coffeeshop, das Happy Bean. Zu gerne wäre ich mit der Elfe noch weiter ins Gespräch gekommen, hätte vielleicht auch Namen und unsere Nummern getauscht, aber daran war jetzt nicht zu denken.
Zu behaupten, meine vierzehn Jahre und fünf Auslandseinsätze bei den Marines hätten mich aufgewühlt, wäre die Untertreibung des Jahrtausends.
Ich war, gelinde gesagt, am Arsch.
Seit drei Monaten war ich zurück. Die vierzehn Jahre, für die ich mich mit achtzehn direkt nach der Highschool verpflichtet hatte, waren vorbei und ich war ehrenhaft aus dem Dienst entlassen worden. Einige meiner Kameraden hatten dieses Glück nicht, sie hatten im Dienst für ihr Land ihr Leben verloren.
Und nun stand ich hier in meiner Heimatstadt, die ich in den letzten vierzehn Jahren vielleicht zehnmal besucht hatte. Ohne Berufserfahrung, wenn man vom Auskundschaften feindlicher Lager und dem Abdrücken eines Gewehrs einmal absah, und ohne Perspektive. Ja, abgesehen von schlaflosen Nächten und schlechter Laune aufgrund von Koffeinentzug. Ich wohnte bei meinen Eltern in meinem alten Kinderzimmer und vertrieb mir den Tag mit Joggen, Hanteltraining, Gartenarbeit und Kochen. Dazu kam, dass ich mir täglich das Gesicht und den Kopf kahl rasierte.
Alte Gewohnheiten und all so was ...
Mein Leben war das reinste Paradies geworden.
Und natürlich hatten mich unzählige Erinnerungen von meiner Zeit bei den Marines mit nach Hause begleitet. Meine Ausrüstung durfte ich zurücklassen. Sie allerdings nicht ...
Schnellen Schrittes lief ich die Hauptstraße von Oaks Harbor entlang zum Festplatz neben dem Rathaus, an den sich ein Park anschloss. Dort zwischen den Bäumen war ich geschützt vor Blicken, die nicht mit ansehen sollten, was unaufhaltsam auf mich zurollte.
Keuchend kam ich an einer alten Eiche zum Stehen. Während ich mich mit einer Hand am Stamm abstützte, fiel mir der vermaledeite To-go-Becher aus der Hand.
Kriegsfuß.
Dieses eine kleine, so harmlos wirkende Wort war der Grund für diese Panikattacke, die direkt der Hölle zu entspringen schien. Kalter Schweiß brach mir am gesamten Körper aus, während ich gleichzeitig zu zittern begann. In meinen Ohren rauschte es, der Druck in meinem Kopf nahm unaufhörlich zu und mir wurde schwarz vor Augen.
Mit letzter Kraft kniff ich sie zusammen, in der dämlichen Hoffnung, die Bilder aufhalten zu können. Aber ich wusste, dass das nichts brachte.
Die Bilder ließen sich nicht aufhalten.
Niemals.
Ich meinte, den Wüstenstaub auf meiner Zunge zu schmecken. Der Geruch von Metall und Öl brannte sich in meine Nase. Maschinengewehrknattern erklang in meinen Ohren und vor meinen Augen ging die Granate in die Luft. Alles, was sich in der Nähe befand, flog durch die Explosion in die Luft.
Auch meine Kameraden ...
Mit einem Schrei, der dem eines verwundeten Tieres ähnelte, kam ich wieder zu mir. Ich saß auf dem Boden vor der alten Eiche, meine Knie im nasskalten Dreck des Waldbodens, vor mir eine Pfütze des verschütteten Tees, von dem sich der Deckel gelöst hatte.
Mit den Händen auf den Oberschenkeln aufgestützt, ließ ich mein Kinn zur Brust sinken und versuchte, mich auf meinen Atem zu konzentrieren.
Einatmen ...
Ausatmen ...
Einatmen ...
Wie konnte so etwas Natürliches manchmal nur so unglaublich schwer sein?
Und wann würde es endlich aufhören, diese Hölle, die sich mein Leben nannte?
Jennas Kaffeekasse
Wenn ihr das Bedürfnis habt, euch für meine Arbeit bedanken zu wollen, ladet mich gerne auf einen Kaffee ein. Ich danke euch!