Leseprobe Bis ich wieder lachen kann
Eins
Der Schmerz hatte sich in ihrem Bauch festgesetzt. Direkt unter ihrer Brust konnte Katie ihn spüren und presste eine Hand darauf, während sie versuchte tief durchzuatmen und die Tränen zu unterdrücken. Sie musste sich zusammenreißen, denn gleich würden ihre Kinder in die Küche hinunterkommen und ihr Frühstück erwarten, bevor es in den Kindergarten und die Schule ging. Die vielen Streitereien waren auch an ihnen nicht spurlos vorbei gegangen und ihre Mutter dabei zu sehen, wie sie schon morgens kurz nach dem Aufstehen in der Küche zusammenbrach, wollte sie ihnen nicht auch noch antun. Sie war in vielerlei Hinsicht vielleicht egoistisch, wie ihr Mann – oder bald Exmann? – ihr immer wieder vorgeworfen hatte. Der Gedanke daran, dass sie ihn bald Exmann nennen würde, nahm ihr fast die Luft zum Atmen, so sehr tat er weh. Aber ihre Kinder waren das Wichtigste in ihrem Leben und stellten alle anderen Verpflichtungen sowie ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund.
Calvin, ihr Ältester mit seinen acht Jahren, sprang die Treppe herunter und kam zu ihr in die Küche gelaufen.
»Lani möchte unbedingt die rote Strumpfhose zu dem grünen Kleid anziehen, Mommy. Ich habe ihr gesagt, dass sie dann aussieht wie ein Weihnachtself, wir aber noch Sommer haben und da gibt es keine Weihnachtselfen. Da fing sie an zu weinen. Ist das Frühstück schon fertig, Mommy?«
Calvin war eine richtige Quasselstrippe. Wenn er nicht gerade schlief, erzählte er munter von seinem Traum in der letzten Nacht, den neuesten Geschichten seiner Mitschüler oder seinen Plänen für das nächste Wochenende. Aber er liebte seine kleine Schwester über alles und spielte jetzt schon den Beschützer für die Fünfjährige. Ein Segen für Katie, die erst vor wenigen Monaten von Clayton, ihrem Ehemann und Vater ihrer Kinder, verlassen wurde. Die Trennung hatte sie richtig aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hatte seitdem manchmal große Mühe, sich auf die alltäglichen Aufgaben zu konzentrieren aufgrund der Sorgen darum, wie es weitergehen würde.
»Guten Morgen, mein Großer.« Katie beugte sich zu Calvin und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Ihr Sohn nickte abwesend und hatte seinen Blick bereits auf den gedeckten Frühstücktresen gerichtet. Als seine Augen seine Lieblingsmüslischüssel mit den Autos auf dem Rand fanden, sprang er auf den Hocker und machte sich über sein Frühstück her. Katie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich schaue mal nach deiner kleinen Schwester und versuche sie zu überzeugen, dass sie heute keine Strumpfhose anziehen muss. Iss dein Frühstück langsam, mein Schatz, sonst bekommst du nachher im Auto wieder Bauchschmerzen«, fügte sie noch milde lächelnd an ihren Sohn hinzu.
Lani saß mit geröteten Augen und Tränen auf der Wange auf dem Teppich in ihrem Zimmer und spielte Zoo mit ihren Plüschtieren, als Katie nach oben in ihr Kinderzimmer kam. Die rote Strumpfhose hing halb an ihren Beinen hochgezogen auf ihren Knien.
Katie hockte sich vor ihre Tochter und strich ihr liebevoll über den Kopf. »Liebling, wieso soll es heute unbedingt die rote Strumpfhose sein? Möchtest du nicht lieber ohne in den Kindergarten gehen? Es ist doch viel zu warm draußen für eine Strumpfhose.«
Lani schluchzte auf. »Ich möchte aber ein Weihnachtself sein. Es soll Weihnachten sein! Der Sommer ist blöd!«
Katie schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Die Hartnäckigkeit, um nicht zu sagen den Dickkopf, hatte die Kleine eindeutig von ihrem Vater geerbt, auch wenn sie sich bemühte, nicht schlecht über ihn zu denken. Ihr Mann und sie waren sich einig, dass sie es nicht an den Kindern auslassen wollten, dass es zwischen ihnen nicht mehr funktionierte. Bis vor ein paar Wochen noch hatte Clayton im Gästezimmer bei ihnen im Haus geschlafen; eine Übergangslösung, die mehr schlecht als recht funktioniert hatte. Dann hatte er aber seine Sachen gepackt und war in eine Wohnung in der Stadt gezogen, als die Kinder ein Wochenende bei Katies Eltern verbracht hatten. Wohlgemerkt in dasselbe Appartementgebäude seiner neuen Freundin, ein quirliges junges Ding mit einer schlanken, gut trainierten Figur und langen blonden Haaren, die ihr Leben bei Weitem nicht so ernst nahm geschweige denn ständig schlechte Laune versprühte, wie er das bei Katie immer kritisiert hatte. Das waren Claytons Worte gewesen, als er sie über seinen Auszug in Kenntnis gesetzt und bereits wenige Minuten später begonnen hatte, seine Taschen zu packen.
Die neue Situation war für alle nach wie vor mehr als ungewohnt und dementsprechend gewöhnungsbedürftig. Zumal ihre Kinder nicht unbedingt zu denjenigen gehörten, die mit neuen Situationen sofort offen und selbstverständlich umgingen. Sie hatten schon immer eine gewisse Zeit an Vorlauf benötigt, um sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, genau wie Katie selbst auch ihr ganzes Leben schon. Entsprechend schwierig war die neue Lebenssituation für die Familie, und entsprechend verständnisvoll und einfühlsam musste Katie mit ihren Kindern umgehen, obwohl sie selbst so verletzt war und sich am liebsten den ganzen Tag im Bett verkrochen und die Decke über den Kopf gezogen hätte.
»Lani Schatz, du liebst den Sommer. Es hat dir doch gefallen, am Wochenende bei deinen Großeltern im Pool zu plantschen, oder? Das kannst du im Winter nicht tun, wenn es draußen kalt ist.« Katie hoffte wirklich, ihre Stimme klang ruhig und überzeugend genug, um Lani zum Frühstücken zu bewegen und dieses leidige Strumpfhosenthema damit abzuhaken.
Aber Lani tat so, als hörte sie ihre Mutter nicht und spielte weiter mit ihren Kuscheltieren, während ihr die Tränen die Wangen herunterliefen und sie herzzerreißend schluchzte.
Zehn Minuten später kam Katie mit Lani auf dem Arm die Treppe herunter in die Küche und schickte Calvin, der in der Zwischenzeit sein Frühstück verputzt hatte, zum Zähneputzen ins Badezimmer. Mit viel Mühe und Geduld hatte sie ihre Tochter doch noch überzeugen können, dass heute kein Strumpfhosenwetter war und sie im Kindergarten bestimmt in der draußen angelegten Wasserlandschaft spielen durften. Die Sonne schien schon jetzt verheißungsvoll vom Himmel und Katie war sich sicher, dass es ein heißer Tag werden würde. Sie setzte Lani auf ihren Platz, stellte ihr Frühstück vor sie und bereitete die Lunchboxen der beiden weiter vor, damit sie sie gleich in ihre Rucksäcke packen konnte. 20 Minuten später hatte sie beide auf ihren Kindersitzen in ihrem SUV angeschnallt und war auf dem Weg Richtung Grundschule und Kindergarten, die in dem ruhigen beschaulichen Ort in Connecticut, in dem sie wohnten, zum Glück gleich nebeneinander lagen und ihr so den täglichen Fahrweg deutlich vereinfachten.
Zurück zu Hause machte sie sich einen Cappuccino an ihrem Kaffeevollautomaten, lehnte sich mit dem Becher in der Hand an den Küchentresen und überlegte, was sie als erstes auf ihrem heutigen Tagesplan angehen würde. In den letzten Wochen fiel ihr die Hausarbeit schwer; sie wusste kaum, wo ihr der Kopf stand und was es alles zu erledigen galt. Dazu kamen diese permanente Schwere und Erschöpfung, die von ihrem Körper bereits seit Monaten – oder waren es Jahren? – Besitz ergriffen hatten und die kleinsten Tätigkeiten zu einem immensen Kraftakt machten. Aber trotzdem war sie froh, dass sie sich beschäftigen konnte und damit von der elendigen Misere abgelenkt wurde, in der sich ihr Leben aktuell befand.
Sie konnte kaum glauben, dass Clayton tatsächlich ausgezogen war und sich seitdem nur noch – in einem monotonen emotionslosen Ton wohlbemerkt – mit ihr über die Kinder unterhielt. Sonst gab es keine netten Worte, keine Frage, wie es ihr ging oder was sie am Wochenende unternehmen wollte. Wie war es nur so weit gekommen, dass sie keine gemeinsamen Gesprächsthemen mehr hatten, geschweige denn an einem Tisch essen und in einem Bett zusammen schlafen konnten? Auch wenn die Fragen unablässig in ihrem Kopf herumschwirrten, wusste sie es genau. Ihr gemeinsamer Alltag hatte nur noch aus Missverständnissen und gegenseitigen Vorwürfen bestanden. Wenn sie sich denn überhaupt mal über den Weg gelaufen waren. Während sie ihre Arbeit schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, um sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern, hatte Clayton sich mit den Monaten immer mehr in seine Arbeit gestürzt, war immer später nach Hause gekommen. Oft war er erst gekommen, wenn die Kinder schon im Bett lagen, und war morgens bereits wieder unterwegs, bevor sie aufstanden. An den Wochenenden ging er zum Sport oder traf sich mit seinen Kumpels, während sie etwas mit den Kindern unternahm und sich um Essen, Einkauf und Haushalt kümmerte. Manchmal überraschte Clayton sie, in dem er unangekündigt bei Calvins Baseballspielen auftauchte oder, wenn kein Spieltag war, etwas mit Calvin oder manchmal auch beiden gemeinsam unternahm. Aber niemals lud er Katie dazu ein. Sie hatte die versteckte Botschaft, die er ihr damit übersandte, klar und deutlich vernommen. Er legte auf ihre Anwesenheit keinen Wert mehr. Zu oft hatte sie ihn in den vergangenen Monaten wütend gemacht.
Katie fühlte sich so unheimlich missverstanden, dass es ihr physisch weh tat. Es wollte einfach nicht in ihren Kopf, dass es tatsächlich so weit gekommen war. Voller Sehnsucht dachte sie an die Anfangszeit ihrer Beziehung zurück, als alles noch so neu und aufregend gewesen war. Als sie einfach nicht ohne einander konnten und sich immer blind verstanden hatten. Sich ständig ihre Liebe zueinander gestanden hatten.
Sie hatte Clayton zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben kennengelernt, an dem sie ziemlich häufig umhergetaumelt und allgemein sehr labil war. Die Gründe dafür waren vielfältig. Im Grunde aber war es eine Mischung. Sie wollte in ihrem Job viel erreichen, studierte nebenbei noch, um ihrer Karriere einen Schub zu verpassen und konnte aber gleichzeitig nicht allein sein. Sie hatte sich trotz des ganzen Stresses und der wenigen Zeit, die ihr neben Job und Studium blieb, sehr oft so unglaublich einsam und verloren gefühlt. Besonders in dem Jahr vor ihrem Kennenlernen hatte sie einige Fehler verbüßt, an die zu denken ihr heute noch schwerfiel und die sie sich nie so richtig hatte verzeihen können. Sie hatte es sich damals aber gleichzeitig auch nicht zugestanden, aus diesen Fehlern zu lernen und sich selbst zu verzeihen, um wieder nach vorne blicken zu können. So kamen zu den äußeren Faktoren und der permanenten Überforderung noch Selbstvorwürfe und eine fehlende Selbstliebe hinzu.
Lag es daran, dass sie noch nie wirklich selbstbewusst durch ihr Leben gegangen war und es auch nie besonders gut mit sich allein ausgehalten hatte? Dass sie mit sich selbst nicht im Reinen war und deswegen ihre Beziehung seit einiger Zeit so holprig verlaufen war? Clayton hatte ihr von Anfang an so ein enormes Selbstvertrauen geschenkt; einfach durch seine Art, wie er alles angegangen war, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war extrem selbstbewusst, irgendwie auch arrogant, aber auf eine sympathische Art und Weise. Er wusste einfach immer, was er wollte und das war erstaunlicherweise unter anderem auch Katie. Sie war zunächst skeptisch gewesen und konnte ihrem Glück nicht trauen, aber Clayton blieb hartnäckig. Inzwischen wusste Katie, dass Clayton immer das bekam, was er sich vorgenommen hatte. So trafen sie an einem sonnigen, warmen Tag aufeinander und plötzlich hatte Katie ihn an einem Wochenende ihren Eltern vorgestellt, nicht einmal zwei Monate nach ihrem Kennenlernen. Da wusste Katie, diesen so besonderen Mann musste sie um jeden Preis festhalten, denn so etwas Gutes würde ihr nicht noch einmal passieren und das durfte sie um keinen Preis vermasseln. Und standen diese Gedanken nicht sinnbildlich für ihre gesamte Gefühlswelt und das Problem an der ganzen Sache? Hätte sie das damals doch schon gesehen.
Katie bekam heute noch Gänsehaut vor Glück, wenn sie an die Zeit damals zurückdachte. Sie war so jung und verliebt gewesen und konnte selbst heute ihrem Glück kaum trauen. Bis ihr wieder einfiel, dass nichts mehr so war wie noch vor ein paar Wochen und sich zu der Gänsehaut Übelkeit gesellte.
Im Nachhinein betrachtet wusste Katie, dass sie schon immer zwischen zwei emotionalen Extremen hin- und herschwankte. Zu Beginn ihrer Beziehung konnte sie dies noch unterdrücken, aber mit der Zeit trat es immer mehr zutage.
Auf der einen Seite war da diese bedingungslose Liebe zu ihrem neuen Freund und ihr Erstaunen darüber, dass dieser tolle unglaubliche Kerl tatsächlich mit ihr zusammen sein wollte und um sie gekämpft hatte. Sie konnte es einfach nicht fassen und hatte unglaubliche Angst, ihn zu verlieren. Das äußerte sich dann darin, dass Katie es Clayton immer und überall in allem recht machen wollte und nicht auf ihre eigenen Bedürfnisse achtete, was sich alles mit der Zeit anstaute. So reichte oft eine Kleinigkeit aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Das wiederum hatte sich dann gezeigt in Form von plötzlicher Zickigkeit, weil ihre Emotionen urplötzlich übergeschwappt waren, sie nie eine Pause eingelegt hatte und einfach nur unentwegt völlig überreizt war. Dieses Phänomen, diese ständigen Überschreitungen ihrer eigenen Grenzen, wusste Katie heute, traten schon auf, bevor sie beide sich kennengelernt hatten. Sie konnte es damals aber noch nicht einordnen. Wenn sie in so einen Tunnel von Überforderung und Emotionalität geriet, war Clayton derjenige, der alles abbekommen hatte. Ausgerechnet er, die Liebe ihres Lebens, von der sie damals nicht glauben konnte, dass er tatsächlich an ihr interessiert war und mit ihr zusammen sein, ja sogar sehr schnell zu Beginn ihrer Beziehung zusammenziehen und eine Familie gründen wollte.
Aber wie eine selbsterfüllende Prophezeiung saß sie nun allein hier in ihrem ehemals gemeinsamen großen Haus und kämpfte mit einer bodenlosen, niemals aufhörenden Erschöpfung, die ihr manchmal die Luft zum Atmen nahm, so sehr hatte sie sie im Griff. Clayton hatte es nicht mehr mit ihr ausgehalten, hatte seine Sachen gepackt und war ausgezogen. Bei dem Gedanken daran übermannten sie Schuldgefühle und unendliche Traurigkeit. Die Kinder holte er jedes zweite Wochenende ab und verbrachte Zeit mit ihnen, mit Katie selbst sprach er nur noch das nötigste.
Bevor es dazu gekommen war, hatten sie sich immer weiter voneinander entfernt. Die Probleme hatten über die Jahre immer mehr Raum in ihrer Beziehung eingenommen, bis ein alltägliches Miteinander nicht mehr möglich gewesen war. Ständig hatte einer den anderen missverstanden, sie trafen keine gemeinsamen Absprachen mehr und irgendwann war es zur Normalität geworden, dass Clayton im Gästezimmer schlief, wenn er spät von der Arbeit oder seinen Kumpels nach Hause kam. Irgendwann verbrachte er schließlich jede Nacht dort, bis er dann ganz auszog in sein eigenes Appartement.
Katie liefen die Tränen über das Gesicht und der Zusammenbruch, der sich bereits den gesamten Morgen über zunehmend zusammenbraute, den sie aber aufgrund ihrer Kinder ganz nach hinten in ihr Bewusstsein geschoben und versucht hatte zu verdrängen, ließ sich nicht mehr aufhalten. Sie wusste einfach nicht mehr weiter. Eigentlich wusste sie gar nichts mehr bis auf die Tatsache, dass sie so nicht mehr weitermachen konnte. Völlig verzweifelt sackte sie in sich zusammen und ließ den Tränen freien Lauf.
Katie war am Boden zerstört. Nach ihrem emotionalen Zusammenbruch am Vormittag hatte sie sich den restlichen Tag über gehen lassen, bevor sie alle ihre Kraft aufbringen musste, um aufzustehen und ihre Kinder abzuholen. Sie schaffte es nicht, ihre niedergeschlagene Stimmung vor Calvin und Lani zu verbergen. Das Ergebnis war, dass sie alle drei noch vor dem gemeinsamen Abendessen derart voneinander genervt waren und sich nur noch angeschrien hatten, dass sie die beiden kurzerhand mit ihrem Essen vor dem Fernseher platziert und sich selbst überlassen hatte. Ihr eigenes Abendessen hatte sie lustlos und allein in der Küche zu sich genommen.
Und dann hatte Lani, ihre kleine, süße, niemals die gute Stimmung verlierende Tochter, sie gebissen, als es darum ging ins Bett zu gehen. Nicht aus Spaß, nein, so richtig heftig in den Oberschenkel, so dass sie dort nun die Abdrücke von Lanis kleinen Zähnchen sah und sich bis morgen dort bestimmt ein Bluterguss bilden würde.
Lani lag mittlerweile weinend in ihrem Bett und Katie hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen, zu kraftlos, um sie zu trösten. Calvin hatte sich bereits vor einiger Zeit genervt von dem Gequengel seiner kleinen Schwester in sein Zimmer verkrochen und las bestimmt in seinem Bett. Währenddessen tigerte Katie ruhelos durch das Zimmer, dabei flossen ihr die Tränen über das Gesicht. Was sie so mitnahm, war ihre eigene Reaktion auf Lanis Verhalten gewesen. Sie war so entsetzt und perplex von dem Biss gewesen, dass sie sofort aufgesprungen war und Lani angeschrien hatte. Und dann hatte sie ihr eine Ohrfeige verpasst. Das war ihr noch nie passiert! Sie schämte sich so sehr über ihr eigenes Verhalten. Wie sollte sie sich das selbst nur jemals verzeihen und wieder in den Spiegel schauen können?
Offensichtlich waren die Ereignisse der letzten Zeit eindeutig zu viel und sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, wenn etwas Außergewöhnliches passierte. Letzten Endes war das aber nur der zu erwartende Abschluss eines absolut verkorksten Tages gewesen. Katie hatte keine Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie wusste nur, dass es so einfach nicht weitergehen konnte. Am nächsten Tag hatte sie einen Termin bei ihrer neuen Therapeutin. Dort würde sie den heutigen Vorfall ansprechen und gemeinsam mit ihr an einer Strategie arbeiten, wie sie solche Situationen besser handhaben könnte und vor allem erst gar nicht mehr entstehen lassen würde.
Die Aussicht, die Sache anzugehen und einen Plan zu haben, ließ sie etwas zuversichtlicher werden. Katie nahm einige tiefe Atemzüge und sammelte sich. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und ging etwas beruhigter nach oben in Lanis Zimmer. Ihre Tochter lag zusammengekauert auf ihrem Bett und wimmerte noch immer vor sich hin. Katies Herz zog sich bei dem Anblick schmerzhaft zusammen und mit wenigen Schritten durchquerte sie das Zimmer, um sich auf die Bettkante neben ihrer Tochter zu setzen. Mit einer Hand fuhr sie Lani liebevoll über das Haar und bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Es tut mir leid, mein Engel. Ich wollte dich nicht anschreien.«
Lani schluchzte leise auf und wischte sich mit ihren kleinen Händen über die Augen und die Nase, sagte aber nichts und blickte Katie auch nicht an. Katie versuchte, sich davon nicht beirren zu lassen. Sie wollte nicht, dass Lani einschlief, ohne dass sie sich ausgesprochen hatten. »Kannst du mir sagen, warum du mich gebissen hast?« Noch immer sagte Lani kein Wort, hatte aber mit dem Schluchzen aufgehört und schien ihr zumindest zuzuhören. »Du hast mir damit sehr weh getan, meine Kleine. Dass du mich gebissen hast, macht mich sehr traurig.« Katie machte eine kurze Pause. »Hast du das getan, weil ich laut geworden bin?«
»Ich mag es nicht, wenn du mit mir schimpfst, Mommy«, hörte sie Lani nun doch sagen, wenn auch sehr leise.
»Ich mag es auch nicht, mit dir zu schimpfen und es tut mir sehr leid.«
»Es tut mir auch leid, Mommy. Ich wollte dir nicht weh tun.«
Erleichtert, dass Lani sich ebenfalls bei ihr entschuldigt hatte und sich ihres Verhaltens offenbar bewusst war, beugte sich Katie zu ihrer Tochter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Vertragen wir uns wieder, mein Engel?«
Lani schlang ihre kleinen Arme um sie und drückte sie ganz fest. »Ja, Mommy. Ich hab‘ dich lieb.«
Katie umarmte sie ebenfalls und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Ich dich auch, Lani.«
»Können wir noch etwas kuscheln, Mommy?«
Katie lächelte. »Natürlich, mein Schatz.« Sie legte sich zu ihrer Tochter und nahm sie in den Arm. Vertrauensvoll schmiegte sich Lani an sie. So blieben sie eine Zeit lang liegen, bis Katie schließlich wieder sprach: »Und nun schlaf gut, meine Kleine, und träum etwas Schönes, ok?«
»Ok, Mommy.« Lani kuschelte sich in ihr Bett und schloss sofort die Augen, nachdem Katie aufgestanden war. Offenbar hatte sie der emotionale Tumult genauso erschöpft wie Katie.
Sie schaltete das Nachtlicht auf Lanis Kommode an und ging leise hinaus. Anschließend warf sie einen Blick in Calvins Zimmer. Wie vermutet saß er, immerhin bereits im Schlafanzug, auf seinem Bett und las in seinem aktuellen Buch.
»Nur noch das Kapitel, Mommy«, rief er ihr zu, als er sie im Türrahmen stehen sah.
» Hast du deine Zähne schon geputzt?
»Habe ich!«
»Sehr gut. Noch zehn Minuten und dann Licht aus, mein Großer.« Calvin war jedoch schon wieder in sein Buch vertieft und antwortete ihr nicht. Mit einem Lächeln im Gesicht schloss sie die Tür und ging wieder nach unten, um es sich ebenfalls mit einem Buch auf der Couch gemütlich zu machen, bis es für sie Zeit wurde, ins Bett zu gehen.
Zur selben Zeit verließ Clayton das Fitnessstudio. Nach einem erfolgreichen aber auch anstrengenden Tag im Büro hatte er sich bei einem kräftezehrenden Training ordentlich ausgepowert. Am liebsten wäre er anschließend zu seinen Kindern gefahren. Ihr Geplapper und ihre stürmischen Umarmungen waren genau das, was ihm an diesem Tag noch fehlte.
Wie immer, wenn er an sie dachte, verspürte er einen unangenehmen Stich in seiner Herzgegend und fragte sich, wie sie mit der Trennung von ihm und Katie zurechtkamen. Er selbst hatte die Trennung nur sehr schwer verkraftet und sich tagelang bei seinem besten Kumpel Brad auf der Couch betrunken und ausgeheult, und er war ein erwachsener, gestandener Mann. Wie sollte es dann wohl seinen Kindern gehen, geschweige denn Katie, die so unglaublich sensibel war? Bei dem Gedanken an Katie verstärkte sich das Ziehen in seinem Herzen und er verbot sich jeden weiteren Gedanken an seine Frau, während er sich abwesend über die Brust strich, wie um den Schmerz wegzuwischen. Sie war schließlich schuld an dieser ganzen Situation. Wenn sie sich nicht ständig so egoistisch verhalten und sich über jede Kleinigkeit beschwert hätte und dabei Clayton auch noch die Schuld an allem gegeben hätte und sich stattdessen einfach nur mal ein bisschen zusammengerissen hätte, wären sie erst gar nicht in diese miserable Lage gekommen und hätten ihr schönes Leben weiterführen können wie bisher. Leider sah Katie das anders, wie sie mit ihrem egoistischen Verhalten jeden Tag aufs Neue bewiesen hatte. Da war es auch kein Wunder, dass er Zuflucht bei Anastacia gesucht hatte, die er hier im Fitnessstudio kennengelernt hatte. Er hatte sich nach Feierabend in den Sport gestürzt und die attraktive, sportliche Blondine genau in der Zeit getroffen, als es bei ihm Zuhause richtig gekracht hatte. Anastacia hatte ihn mit offenen Armen in ihrem Leben aufgenommen und ihm berichtet, dass in ihrem Appartementkomplex eine Wohnung freigeworden war, als er ihr an einem Freitagabend nach einem riesigen Streit mit Katie aufgebracht erklärt hatte, dass er dringend aus dem gemeinsamen Haus ausziehen musste, wenn er nicht durchdrehen wollte. Eine Woche später hatte er das bereits in die Tat umgesetzt und genoss seitdem sein neues Leben. Unverbindlicher Sex, denn Anastacia wusste, was sie an ihm hatte und stellte keine weiteren Forderungen. Er konnte tun und lassen, was er wollte, ohne dass ihm dabei jemand die Laune verhagelte. Es hätte großartig sein können, wären da nicht seine Kinder gewesen, die er schrecklich vermisste.
Er zog sein Handy aus der Tasche und schrieb Anastacia eine kurze Nachricht in der Hoffnung, sich heute Abend noch in ihren Armen verlieren und die trübsinnigen Gedanken in seinem Kopf somit vertreiben zu können.
Jennas Kaffeekasse
Wenn ihr das Bedürfnis habt, euch für meine Arbeit bedanken zu wollen, ladet mich gerne auf einen Kaffee ein. Ich danke euch!